
Freiwild?
Zur Reform des Sexualstrafrechts in der Schweiz. Eine Ausstellung mit Begleitveranstaltungen im Anna Göldi Museum
Was wirklich geschah, wissen wir bis heute nicht genau. Fest steht, dass die Dienstmagd Anna Göldi, die als letzte Hexe Europas in die Geschichte eingegangen ist, im Herbst 1781 beim Glarner Sittengericht vorsprach. Ob sie dort - ein Tag nach ihrer Entlassung durch ihren Dienstherrn Dr. Johann Jakob Tschudi - Schutz oder Gerechtigkeit suchte, bleibt im Dunkeln. Sicher ist, dass ihre Vorsprache behördliche Ermittlungen auslöste. Sowohl die Magd als auch der dreizehn Jahre jüngere Arzt, der selbst zu den höchsten Sittenwächtern des Landes gehörte, wurden in der Folge vom Gericht zum Vorwurf der sexuellen Verfehlung verhört.
Doch schon bald traten diese Vorwürfe in den Hintergrund. Die Aufmerksamkeit wurde nach und nach vom mutmasslichen Täter auf das Opfer gelenkt, das mit einem erfundenen – und rational nicht nachvollziehbaren -Vergiftungsdelikt zur Verbrecherin erklärt, hingerichtet und damit endgültig zum Schweigen gebracht wurde.
Auch wenn sexualisierte Gewalt nicht immer so deutlich wie auf der Abbildung der wehrlos auf dem Rücken liegenden, nackten Frau mit zusammengebundenen Händen und Füssen zu Tage tritt, so ist sie bis heute eng mit dem Phänomen des Hexenwahns verbunden. Gewaltfantasien und sexuelle Projektionen auf das weibliche Geschlecht ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Eine wichige Rolle spielte dabei die Vorstellung der weiblichen Buhlschaft mit dem Teufel. Dieser, so wurde behauptet, habe mit dem angeblich schwachen Geschlecht ein besonders leichtes Spiel. Das Geständnis einer Teufelsbuhlschaft wurde meist unter Folter erzwungen. Ein solches Geständnis genügte, um eine Frau zur Hexe zu erklären und hinzurichten. Nicht selten wurde von der Buhlschaft angeklagten Frauen ausgesagt, dass der Teufel in Gestalt eines ihnen bekannten Mannes zu ihnen gekommen sei. Die Frage, ob eine vergewaltigte Frau körperliche oder psychische Verletzungen erlitt, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ging es um die Frage, inwiefern es dem Opfer gelungen ist, seine Ehre erfolgreich zu verteidigen. Fehlte die Gegenwehr oder wurde eine Frau anlässlich der Vergewaltigung schwanger, galt der sexuelle Übergriff nicht als Straftat. Fahrende oder Prostituierte galten als ehrlos und konnten damit gar nicht erst Opfer eines sogenannten „Notzuchtdeliktes“ werden. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mutete unsere Gesellschaft unverheirateten Frauen und wehrlosen Kindern ein Dasein als „Freiwild“ zu, indem sexuelle Übergriffe auf sie ungeahndet blieben. Wie veraltet das Sexualstrafrecht in der Schweiz im Vergleich zum Strafrecht anderer Staaten Europas heute daherkommt, wird durch den Blick in die Vergangenheit erst richtig deutlich. Und wie unzulänglich Betroffene durch das geltende Recht heute geschützt werden, zeigt die Ausstellung anhand des Schicksals von sieben Frauen der Gegenwart, die sexualisierte Gewalt erlitten haben.